Rainer Werner Fassbinder auf der Berlinale

 

Für immer Rainer Werner Fassbinder: Zwei Dokumentationen im Panorama ergründen den Aufbruch im deutschen Film – und den Weg in die RAF.

Ganz unten wolle er anfangen und Gefühle analysieren, um etwas zu verändern – so verteidigte Rainer Werner Fassbinder seinen ersten Spielfilm „Liebe ist kälter als der Tod“, als er bei der Berlinale 1969 für seine kühle Gangsterparabel ausgepfiffen wurde. Liebe und Verrat, wie sie Claude Chabrol in ätzenden Satiren auf die Bourgeoisie erzählte, inspirierten ihn, auch die Gesetze des Handelns in Spaghetti-Western färbten auf sein Debüt ab. Aber es ging um Theater und Kino, symbolische Parallelwelten, in denen er unbequeme Bilder der Nachkriegsgesellschaft entwarf, nicht um Flugblätter und Demonstrationen oder gar Brandstiftung, Bomben und die selbstermächtigte Stadtguerilla RAF.

Der dänische Dokumentarfilmregisseur Christian Braad Thomsen hat 45 Jahre nach seiner ersten Begegnung mit dem hyperproduktiven Wunderkind sein Archiv geöffnet und aus den gemeinsamen Gesprächen ein angenehm unaufgeregtes Porträt montiert, „Fassbinder – Lieben ohne zu fordern“, in dem er die Fragen von politischem Widerstand und individuellem Anarchismus beleuchtet. Auch Jean-Gabriel Périots Dokumentation „Une jeunesse allemande“, eine Chronik der Ereignisse von 1966 bis zum „Deutschen Herbst“ 1977 anhand von Studentenfilmen, Fernsehsendungen und Kinofilmausschnitten, kommt ohne Rainer Werner Fassbinder nicht aus.

Sein Streit mit der Mutter am Küchentisch, die legendäre Szene aus „Deutschland im Herbst“, schreibt am Ende des französischen Resümees auf dieses historische Kapitel die Kluft zwischen der von Fassbinder repräsentierten Nachkriegsgeneration und ihrer Nazi-Eltern fest. Anders und differenzierter der dänische Film, der gelebte Erfahrung gelten lässt: Fassbinder provoziert die Mutter, wirft ihr mangelndes Demokratie-Verständnis und einen Hang zu Selbstjustiz vor; er holt ihre Sehnsucht nach einem autoritären Führer ans Tageslicht, ohne seine Beziehung zu ihr aufzukündigen.

Wer weiß, welche Wendung die Geschichte der Film- und Fernsehakademie in Berlin genommen hätte, wenn Fassbinder bei ihrer Gründung 1966 als Student angenommen worden wäre. Louis Malles mexikanische Revolutionsoper „Viva Maria“, in der Brigitte Bardot zierlich das Handwerk des Bombenlegens vorführt, war damals ein Hit, auch die explosive Zerstörung einer Millionärsvilla in Michelangelo Antonionis „Zabriskie Point“ wurde 1969 vom Off-Kino-Publikum gefeiert, aber der West-Berliner Filmnachwuchs stand Godards intellektuellen Pamphleten näher als Fassbinders cineastischen Vorbildern.

Beide Dokumentationen untersuchen die Geschichte des politischen und ästhetischen Widerstands um 1968 und den Weg in die RAF aus dem Blickwinkel damals junger Filmleute. „Une jeunesse allemande“ reiht eine Fülle historischer Mediendokumente – dilettantische Übungsfilme, ikonische TV-Statements von Ulrike Meinhof, bekannte Demonstrationsbilder und Schlaglichter auf die aggressive Volksmeinung gegen den Studentenprotest – zu einem dichten Abbild des Diskurses, den junge Filmintellektuelle um Holger Meins, Harun Farocki und andere an der Film- und Fernsehakademie neben Meinhof, der prominenten Kolumnistin, Talkshow-Diskutantin und Dokumentarfilmerin, schufen.

Mit handgemachten 16-Millimeter-Filmen sollte der Klassenkampf vorangetrieben werden, gegen den Vietnamkrieg und die USA, gegen die alten Nazi-Netzwerke der Bundesrepublik. Wer die Revolutionäre waren und wie die Überlebenden heute darüber denken, lässt Jean-Gabriel Périot außen vor. Einzig Ulrike Meinhof wird in Ausschnitten zitiert, die ihre fundamentale Kritik an deutschen Arbeitsverhältnissen, am Erziehungssystem in Heimen und der mangelnden Frauenemanzipation anschaulich machen.

Rainer Werner Fassbinder reflektiert die Geschichte in den Interviews, die Christian Braad Thomsen 1969 und 1974 aufzeichnete, mit kritischer Sympathie. Verzweiflung, meint er, habe Meinhof und die anderen getrieben, dem Automatismus der Gewalt zu folgen und am Ende terroristisch zu wiederholen, wogegen sie ursprünglich angetreten waren. Thomsen gelingt ein vielschichtiges Personen- und Epochenporträt aus Gesprächen und Kommentaren des Regisseurs, aber auch von Fassbinders Schauspielern Harry Baer, Irm Hermann und Margit Carstensen. Er analysiert Gefühle und ihre Missbräuchlichkeit, Fassbinders schmerzlichen, oft abgründigen Schaffensprozess. Unerbittlich wie die Haltung der Protagonisten in „Une jeunesse allemande“ war Fassbinder nicht.

 

Claudia Lenssen
Tagesspiegel
09.02.2015